Jürgen Krüger
Hirnforschung
 

                                                            letzte Änderung dieser Webseite : 20. Dez. 2025

Der Hirnbrief 4, 2025   

Affe ohne Zeit zu Mensch mit Zeit


Teile der Inhalte dieses Hirnbriefs kann man auch in früheren Hirnbriefen finden. Aber ich brauche die jetzt relevanten Details in zusammenhängender Form, um voranzukommen auf dem Weg zu einem Verständnis des Zeitbegriffs. Dazu gehört, zu erkennen, dass für Affen rein neurophysiologische Erklärungen der Hirnvorgänge vielleicht noch ausreichen, für Menschen jedoch ganz offensichtlich nicht. Das große Ziel ist die Beantwortung der Frage "Wie hängen neurophysiologische Vorgänge mit den Bewusstsein zusammen?". Ich vermute, dass eine Voraussetzung für das Auftreten des Phänomens "Bewusstsein" die Einrichtung der neurophysiologischen Konstruktion "episodisches Gedächtnis" ist, deren Betrieb zwar immer nur in der jeweiligen Gegenwart stattfindet, aber die Bedeutungszuweisung "Vergangenheit" geht mit ihr einher. Genau diese könnte mit dem Ursprung des Bewusstseins verknüpft sein, denn episodisch erinnerte Inhalte werden immer bewusst. Neben dem altbekannten jeweiligen "Jetzt", für das man keinen Zeitbegriff benötigt, enststehen sozusagen minder-funktionale "Neben-Jetzts" (auch "Vergangenheit" genannt). Der Unterschied ist so ähnlich wie wenn aus der Sicht eines Lebewesens ein Artgenosse eine minderfunktionale Version seiner selbst ist.


Der vorliegende Text soll ein erster Schritt sein. Das eigentliche Ziel liegt dennoch in weiter Ferne, denn "Bedeutungszuweisung" ist kein mit der Naturwissenschaft verträgliches Manöver, andererseits aber ist die gesamte Naturwissenschaft eine Sammlung von Bewusstseinsinhalten, deren Zusammenhang mit neurophysiologischen Vorgängen nebulös ist. Il y a anguille sous roche.


Das Volkswissen über die stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen besagt, dass das Lebewesen den aufrechten Gang entwickelt habe, und somit die Hände freibekommen hat für vielfältige Hantierungen. Allerdings gilt diese Aussage bereits für die Affen, und so bleibt die Frage offen, wie man "vom Affen zum Menschen" kommt. Freilich stammt der Mensch nicht vom Affen ab. Vielmehr gab es zunächst eine gemeinsame Primaten-Entwicklung, bis sich vor einigen Millionen Jahren ein Pfad zu den heutigen Affen abspaltete, während ein anderer Zweig zum heutigen Menschen führte. Heutige Affen sind den weiteren Entwicklungsweg zum Menschen nicht mitgegangen. Die Vermutung ist dennoch berechtigt, dass einige Eigenschaften der heutigen Affen Einblick geben in die Natur der Lebewesen, aus denen in weiteren Millionen von Jahren die Menschen entstanden.


Ganz allgemein vollzieht sich eine Entwicklung folgendermaßen: Es gibt für das Lebewesen eine immer wiederkehrende vorteilhafte Situation, an die es aber nicht herankommt. (Es kann sich dabei auch um die überwindung eines Nachteils handeln.) Das Lebewesen "weiß" davon jedoch nichts. Nur durch zufällige Variationen im Verhalten kann hin und wieder der genannte Vorteil zur Wirkung kommen und das Verhalten dann auch gelernt werden. Wenn der Vorteil immer wieder hinreichend lohnend ist, kann die Steuerung der vorteilhaften Abläufe ins Erbgut übernommen werden, so dass spätere Generationen den Lernvorgang nicht erneut durchlaufen müssen.


Hier betrachte ich zunächst einen Aspekt aus den Entwicklungschritten, die noch vor der genannten Aufspaltung stattfand. Man kann sich gut vorstellen, was in der stammesgeschichtlichen Entwicklung einem damaligen Primaten widerfuhr, wenn man sich einen Roboter vorstellt, der mit einer Greifzange an einem langen Arm, und einer Videokamera ausgestattet ist, und der so eingerichtet ist, dass er die Greifzangenbewegungen mit Hilfe der Videosignale steuert. So etwas kann heutzutage gebaut werden. Wenn nun aber ein baugleicher zweiter Roboter seine Greifzange ins Gesichtsfeld des ersten bringt, dann entsteht ein steuerungstechnisches Chaos, weil die zweite Greifzange den Bewegungskommandos des ersten Roboters nicht gehorcht. So etwas von dieser Art hat das zum Affen werdende Tier in seiner Entwicklungsgeschichte erlebt, und es musste entsprechende neurotechnische Umorganisationen vornehmen, um mit fremden Affenhänden in seinem Gesichtsfeld zurechtzukommen, denn solche Situationen waren nicht selten. An die erfolgreiche Erweiterung der Steuerungstechnik schloss sich die Erkenntnis an, dass sie selbst so etwas sind wie die anderen Affen, als Ausdehnung der Idee der Ähnlichkeit der Hände auf den ganzen Körper. Auch von ganzen Hantierungsabläufen konnte die entsprechende Ähnlichkeit festgestellt werden. Das ist die Geschichte der Spiegelneurone (Hirnbriefe 42/43;2009, 3;2020).

Allerdings blieben nur die Anblicke ähnlich, so dass sich bei der Gelegenheit ein erheblicher Restbestand an eigener Hirnaktivität ergab, der keine Entsprechung im Artgenossen hatte. Mit anderen Worten: Der Affe selbst (den ich jetzt Affe-1 nenne) erkannte, dass er ein Aussehen hatte, das ihm von anderen Affen bekannt war. Aber es gab keinen Weg zur Erkenntnis, dass ein Artgenosse über die Anblicke hinaus so etwas war wie er selbst: Der riesige "Restbestand" an neuronalen Signalen blieb auf ihn selbst beschränkt.


Der genannte Restbestand umfasste unter anderem neuronale Motoriksignale, die Affe-1 an seine Muskeln sendet. Über diese erfährt er nichts von seinen Artgenossen. Wohlgemerkt sind damit nicht die Folgen dieser Signale in Form von Gliedmaßenbewegungen gemeint, die natürlich auch für Artgenossen sichtbar sind.
Wie kann man nun, von diesem Stand der Dinge ausgehend, in einem analogen Gedankengang sozusagen zum Menschen gelangen? Der dafür relevante Vorteil wird weiter unten genannt. Zunächst ist ein neuronaler "episodischer" Speicher entstanden, anfänglich nur ansatzweise. Um zu sehen, wie dieser Beginn zustande kam, ist es hilfreich, irgendeine Aktionsprozedur zu betrachten, und an dieser die Arbeitsweise einer Motivationsprozedur anzuschauen. Letztere Prozedur hat meistens einen geringen Umfang. Überspitzt kann man sich sogar vorstellen, dass sie jeweils nur aus einem Neuron besteht. Sie liefert an die Neurone der eigentlich interessierenden Aktionsprozedur eine pauschale Erregung, die wie eine Art Vorwärmung wirkt, so dass die gewünschte Prozedur gegenüber anderen hervorgehoben und leichter von einer einlaufenden Erregungsverteilung angeworfen werden kann. Um das Prinzip zu erkennen, kann man sich dieses einzige Neuron so vorstellen, dass es gerade so verzweigt ist, dass alle seine Endigungen Kontakt haben zu den Neuronen, die zur betreffenden Aktionsprozedur gehören. Diese werden dann also "vorgewärmt". Das Besondere an dieser Situation ist, dass dieses Vorwärmsignal an den Neuronen der Prozedur in derselben Weise ankommt wie die eigentlichen Eingangssignale, die die Prozedur antreiben. Versetzt man sich ins Innere eines der Neurone der Prozedur, dann sähe man die normalen Eingangssignale eintreffen, die von der Prozedur bearbeitet werden sollen, sowie das zusätzliches Eingangssignal "Motivation", das über eine andere Synapse hereinkommt. Der Unterschied ist nur, dass die erstgenannten Signale für die vielen Neurone, die an einer Prozedur beteiligt sind, unterschiedlich sind, wohingegen das Motivationssignal für alle beteiligten Neurone das gleiche ist.


Vom stammesgeschichtlich längst eingerichteten prozeduralen Lernen ist bekannt, dass Neurone, oder genauer genommen, Synapsen, lernfähig sind. Einige Details des Lernmechanismus hatte ich im Hirnbrief 3;2022, oder auch im Hirnbrief 1;2023 beschrieben. Der wesentliche Punkt ist: Wenn die Zellfortsätze vor und hinter einer Synapse gleichzeitig in einem Erregungszustand sind, dann wird die Übertragungsfähigkeit der zwischen ihnen liegenden Synapse ein wenig, aber dauerhaft verstärkt.


Ich betrachte nun eine momentan arbeitende Prozedur, also deren Neurone mehr oder weniger erregt sind. Im selben Moment schickt ein zugehöriges Motivationsneuron seine Erregung. Dann ist die besondere Situation, die hier eine Rolle spielt, dass die Synapse, die das Motivationssignal auf das Prozedurneuron überträgt, nun an denjenigen Prozedurneuronen gestärkt wird, die ohnehin gerade stark erregt sind. Die Folge hiervon ist ein Lernvorgang, der die Wirkung der Motivationserregung auf die Prozedurneurone verstärkt. "Traditionell" wird damit eine bestimmte Motivation schärfer auf die zugehörige Prozedur ausgerichtet.


Aber zugleich ist dies der Ansatz zur Entstehung des episodischen Gedächtnisses. Um das zu erkennen, muss man die Gesamtheit der verzweigten Endungen des Motivationsneurons betrachten. Das Motivationsneuron hat den geschilderten Lernvorgang in vergangenen Aktivierungen der Aktionsprozedur bereits durchlaufen, so dass dessen Ausgangssynapsen nun ungleich und angepasst an die Erregungen Aktionsprozedur waren. Man muss nun einen Moment betrachten, zu dem die Prozedur gerade nicht läuft. Die Prozedurneurone sind also nicht erregt. Wenn nun das Motivationsneuron seine Erregung schickt, kann es im Prinzip ganz allein die Prozedur zum Laufen bringen, obwohl die normalen Betriebsbedingungen überhaupt nicht vorliegen. Es hat nämlich durch den geschilderten Lernmechanismus die Wirkungsstärke auf jedes einzelne Prozedurneuron genau so gebildet, dass die so erzeugte Verteilung aller Prozedurerregungen gerade dem Normalbetrieb entspricht. Dazu ist die Motivationsfunktion natürlich nicht gedacht, auch stellt man sie sich als viel zus schwach vor. Also müssen die Veränderungen der Synapsen besonders stark werden, was sicherlich nicht im Handumdrehen eingerichtet werden konnte. Aber im Prinzip wird auf diese Weise eine prozedurale Erregung, die früher ein- oder mehrmals stattgefunden hat, erneut zum Laufen gebracht, aber in einem Moment, zu dem sie normalerweise nicht laufen würde. Dieses ist der Abruf eines episodischen Gedächtnisinhalts, also eine Erinnerung. Etwas vereinfacht ausgedrückt, wird ausgenutzt, dass eine Motivationsprozedur wenigstens ungefähr "wissen" muss, wie die eigentliche Prozedur beschaffen ist, um das Richtige zu verstärken.


Man ahnt schon gleich, dass ein derartiger Betrieb sehr gefährlich ist, denn das Motivationsneuron übernimmt die Rolle der Eingangssignale, die eine Prozedur zum Laufen bringt, obwohl die normalen Betriebsbedingungen nicht gegeben sind. Vor allem startet sie zum falschen Moment. Ein Abgleiten in eine irreale Welt ist zu befürchten: Prozeduren könnten unter Phantasiebedingungen zur Ausführung kommen. Deshalb ist der ganze Betrieb längst nicht so einfach, wie hier geschildert. Ein Hauptelement im Umgang mit dieser gefährlichen Situation ist das "Kaltstellen", welches das Gegenteil von "Motivation" ist, das zwar nach denselben Prinzipien arbeitet, aber es wirkt (statt "Vorwärmen") wie "Abkühlung", indem ein "Kaltstell-Neuron" die Neurone der interessierenden Prozedur bremst. Wegen des Auftretens von Hemmungen umfasst dieser Vorgang keinen Lernvorgang.


Mit dem Kaltstell-Mechanismus konnten schon die Primaten vor Millionen von Jahren das obengenannte steuerungstechnische Chaos verhindern, indem der Mechanismus auf die motorischen Teile von Prozeduren angewendet wurde, die fälschlich eventuell in Affe-1 entstanden, wenn dieser die Hantierungen eines Artgenossen beobachtete. Die eher sensorischen Teile blieben erhalten, denn mit ihnen kann man noch mehr machen als nur die eigenen Hände steuern.


Der werdende Mensch kann den früheren Primaten dankbar sein, dass sie im Rahmen des Spiegelneuron-Systems den Kaltstellmechanismus mit Wirkung auf die Motorik bereits eingerichtet hatten. (Ein bißchen Durchlässigkeit ist dennoch übriggeblieben: Wenn ich eine Armbewegung einer anderen Person beobachte, lassen sich in meinem Arm Muskelpotentiale messen, aber es kommt bei mir nicht zu einer Bewegung). Ebenso wie im Fall der Spiegelneurone soll ja auch hier wieder erhalten bleiben, den Speicherinhalt anderswie zu verarbeiten. Die Hauptsache ist, dass keine unsinnige Motorik entsteht.


Nach diesem Entwicklungsschritt gab es eine Doppel-Nutzung: Die Notwendigkeit trat auf, eigene Motorik in zwei unterschiedlichen Situationen durch dieselbe Maßnahme zu verhindern. Der Fall 1 betrifft ein anderes Individuum zum selben Moment; der Fall 2 betrifft mich selbst, aber zu einem anderen Moment. Man kann das so sehen: Ich mit meinem Körper tue jetzt etwas. Das gilt als "richtig" oder "normal", oder auch, im Sinne der Entwicklungsgeschichte, als "althergebracht". Als Erbe früherer Primaten kann der Mensch jedoch im Prinzip noch in zwei weiteren Weisen seine Aktionsprozeduren starten, entweder durch Beobachten eines Artgenossen, oder durch Auslesen eines früher abgespeicherten Verlaufs einer eigenen Aktion. In beiden Fällen ist es nicht angeraten, die eigene Motorik damit anzusteuern, aber neue Nutzungen des sensorischen Anteils ergeben sich daraus. Im ersteren Fall ist es vor allem die Erkenntnis, dass man selbst so ausieht und sich bewegt wie ein Artgenosse, und man daraus ggf. Schlüsse ziehen kann. Im letzteren Fall ist es, dass man selbst jetzt so aussieht, oder so beschaffen ist, wie es im Speicherabruf erscheint. Die genannten Schlüsse werden dadurch enorm erleichtert. Hier lauern jedoch die Hauptprobleme bezüglich "Zeit". Eine Ratte kann all diese Zusammenhänge nicht erkennen.


Der Gewinn im letzteren Fall ist immens. Einen Menschen sollte man danach nicht fragen, denn der benutzt sein episodisches Gedächtnis von Kindesbeinen an, und ohne dieses kann er sich ein Leben nicht vorstellen. Man würde Antworten bekommen wie: "sich an ein vergangenes Ereignis erinnern", über das man sich immer wieder freuen oder ärgern könnte, oder "sich eine andere Reaktion zu überlegen, falls die erinnerte Situation erneut einträte". Auch würde man viele Elemente, die beim Nachdenken vorkommen, mit dem episodischen Gedächtnis in Zusammenhang bringen. Insgesamt entstünde der Eindruck, dass dieser Typ von Gedächtnis im Alltag ständig beteiligt ist.


Aber man könnte ja zumindest in Gedanken versuchen, einem Affen diese Frage zu stellen, der dieses Gedächtnis nicht hat. Alles, was er tut, beruht auf der Abwicklung von Prozeduren. Einige davon sind von elementarer Wichtigkeit, existieren in den meisten Tieren und sind uralt. Dazu gehören die Aufzucht der Nachkommen und auch der Nestbau. Diese Prozeduren können nicht hintereinanderweg betrieben werden. Sie dauern zu lange, und müssen oft unterbrochen werden. Aber sie können nach einer Unterbrechung weiter betrieben werden anhand der jeweils gegenwärtigen sichtbaren Umstände. Aber was ist, wenn keine geeigneten Umstände zur Verfügung stehen? Dann ist eine Unterbrechung einer Prozedur immer ein totaler Abbruch. Die Idee ist nun, dass bestimmte Primaten durch die neue Entwicklung des episodischen Gedächtnisses dazu befähigt wurden, Prozeduren aller Art, die von oftmals dringenden anderen Prozeduren unterbrochen wurden, später fortzusetzen. Dabei ist entscheidend, dass derartige Unterbrechungen in einer Prozedur wiederholt vorkommen können. Dadurch entsteht die Möglichkeit, quasi unendlich lange Prozeduren laufen zu lassen. Oder vielmehr: derartige Langzeitprozeduren konnten sich so überhaupt erst entwickeln.


Die Körner, die im Spätjahr von einer Pflanze in den Boden fallen, sind nach kurzer Zeit von Unkraut überwuchert, und nicht mehr sichtbar. Aber im Frühjahr entstehen dort Pflanzen, deren Körner für die Ernährung von Interesse sind. Das Besondere sind nicht diejenigen Körner, die direkt von den Pflanzen herunterfallen, so dass im nächsten Jahr wieder dort diese Pflanzen wachsen. Solche Stellen können allerlei Tiere mit Hilfe eines prozeduralen Gedächtnisses wiederfinden und nutzen. Hingegen der entscheidende Fall ist, dass jemand die Körner ganz woanders hinträgt und ausstreut (und sie dort alsbald nicht mehr zu sehen sind), und dann dort ein halbes Jahr später die interessierenden Pflanzen wachsen. Nur wenn man sich an die Tätigkeit und den Ort des Körnerstreuens erinnert, wird der Zusammenhang mit den gegenwärtig dort entstehenden Pflanzen systematisch nutzbar. Um Ackerbau zu betreiben, muss man ein episodisches Gedächtnis haben.


Diese Primaten mussten also die Fähigkeit entwickeln, sobald sie bemerkten, dass sich eine Unterbrechung androht, schnell noch vorher die wesentlichen Umstände episodisch zu speichern, die später für die Fortsetzung erforderlich waren. Das Management von Unterbrechungen ist die wesentliche Erklärung für die höhere Leistungsfähigkeit ("Intelligenz") von Menschen im Vergleich zu anderen Primaten. Es ist ein pauschales Verfahren, um zu höheren Hirnleistungen zu kommen: Mit längerdauernden Prozeduren kann man komplexere Probleme bearbeiten. Das Besondere an dieser Rolle des episodischen Gedächtnisses ist, dass es nicht darauf ankommt, WAS bearbeitet werden soll, und man braucht auch kein Konzept "Vergangenheit". Dies ist im Gegensatz etwa zu der Vorstellung, dass der Mensch individuell gestaltete Hochleistungsprozeduren entwickelt hat. Eine weitere wesentliche Voraussetzung war (siehe Hirnbrief 7;2009), dass der neuronale Gewebetyp "Hirnrinde" ohnehin die Eigenschaft hat, dass man allzweck-verschaltete Hirnrinde schon entstehen lassen kann, noch bevor klar ist, wofür sie eingesetzt werden soll. Kein Wunder also, dass sich die Menschen aus früheren Primaten in nur wenigen Millionen Jahren entwickeln konnten.


Die ganze hier gegebene Beschreibung ist sehr vereinfacht; viele zusätzliche Aspekte müssten in Betracht gezogen werden. Allein schon die Vorstellung, dass die Motivationsfunktion durch ein einziges Neuron bewerkstelligt werden könnte, ist eine Vereinfachung nur zum Zweck der Beschreibung. Auch müssten die Lern-Veränderungen an den entsprechenden Synapsen sehr heftig sein, um eine zuverlässige episodische Einspeicherung mit nur EINER Darbietung zu erzielen. Auch ist zu erwarten, dass die Motivationssignale eine Zeitstruktur haben, so dass sie bestimmte Zeitabschnitte mehr oder weniger "aufwärmen" können.


Bei diesem physiologisch orientierten Teil der Geschichte ist nicht ersichtlich, wieso ein Speicherabruf etwas mit "Vergangenheit" zu tun haben sollte. Zunächst ist es nur eine nützliche gegenwärtige Erregungsform mit verminderten Rechten, Details und Möglichkeiten. Ihre Rolle ähnelt dem der genetischen Erbsubstanz, die rechtzeitig vor dem Tod eines Individuums durch Kinderkriegen gerettet werden muss, damit die Großprozedur "Leben einer biologischen Art" nach dem Tod des Individuums fortgesetzt werden kann. Es wird nur ein wesentlicher Kern "aus der Vergangenheit" gerettet; bei der Entstehung des Kindes wird zugelassen, dass weitere Einflüsse aus der späteren, jeweils gegenwärtigen Umgebung einwirken. Bei diesem Beispiel denkt kaum jemand daran, dass der genetische Kode den Begriff "Vergangenheit" definiert.


In den Hirnbriefen 1;2019, 2:2021 und 1;2022 habe ich bereits ausgiebig erörtert, was für weitere Probleme man vorfindet, wenn man sich dem Zeitbegriff annähern will. Als nächstes soll das vermutliche Hauptproblem angesprochen werden: Das gesamte Alltagsverständnis mitsamt "Raum" und "Zeit", und damit auch das gedankliche Gebäude "Naturwissenschaft", sind phänomenale Gehalte des Bewusstseins, also Bedeutungen von neuronalen Prozessen. Bedeutungen für wen? ist hier die Frage. Unbewusst kann man jedenfalls keine Wissenschaft betreiben. Die Tatsache, dass kein Neuron einen sehr lange anhaltenden konstanten Sachverhalt durch eine ebenso lang andauernde Erregung wiedergeben kann, deutet darauf hin, dass ganz allgemein die Bedeutung von neuronalen Erregungen "Änderungen" sind, wobei die Frage "längs welcher Koordinate?" schon geklärt sein müsste. Wenn aber etwas eine "Änderung der Variablen X" ist, muss es auch die Variable X selbst geben, deren Größe jedoch nirgends signalisiert würde. In der Mathematik käme sie durch eine Anfangsbedingung zum Ausdruck. Diese können innerhalb des Rahmens einer von einer Gesetzmäßigkeit beherrschten Situation nicht beigebracht werden. Die Anfangsbedingung herrschte zu einer längst in der Vergangenheit liegenden Zeit, wenn man denn weiß, was "Zeit" ist.


Sobald man sich mit der phänomenalen Natur der Naturwissenschaft befasst, muss man sich auch dem Begriff der "Beobachtung" zuwenden, mit dem mehr gemeint ist als ein sensorischer Prozess. Das will ich im nächsten Hirnbrief versuchen, aber wer weiß, ob ich imstande bin, auch nur einen einzigen erhellenden Aspekt zutage zu fördern..